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Pinhole und Pixel
Mit der Lochkamera durch das Waldviertel und Tschechien
Wien, 26. Oktober. Nationalfeiertag. Gestern bei Babsi den Buchblock für das nächste Tagebuch beschnitten, eine abendliche Jause, eine Flasche Wein: Wir hatten uns viel zu erzählen. Purgi schickt mich auf die Reise ist eigentlich das Fotografieren mit der Pinhole-Camera der Vorwand für die Reise oder umgekehrt? Die einzige Bedingung lautet: Ich muß jeden Tag an einem anderen Ort schlafen. Draußen fliegen Hubschrauber herum, herinnen Purgi und Felix fleißig beim Ausmalen. Strahlendes Herbstwetter in Wien. Die Pinhole-Camera liegt im Waldviertel, muß die ersten Sofortbilder mit Kohle zeichnen.
27. Oktober. Bad Deutsch-Altenburg: Nächtliche Einweihung von Johannes neuem Atelier. Fünf kleine Ölbilder angefangen. Schlaf auf Luft, Reise nach Wien, Filme ins Labor, Sushi mit Frau und Sohn; hin und her quer durch Wien; am Abend Treffen mit Raini und Helga, nach südamerikanischem Nachtmahl die ganze Nacht im Keller eines australischen Untergroundlokales getanzt bis zum Morgen. Keine Fotos.
28. Oktober. Ruhetag. Den Vormittagstermin verschlafen, sogar noch zu spät zum Abendtermin erschienen: Kulturstammtisch bei Christine in Thuma. Weiter nach Karlstein um Mitternacht samt Richard. Die dritte Nacht der Herbstreise in Karlstein verbracht.
29. Oktober. Die erste Pinhole-Aufnahme ist gewaltig unterbelichtet. Den größten Unterschied zwischen der »normalen« Fotografie durch ein Linsensystem (also durch das Objektiv der Kamera) und der Pinhole (= Stecknadel-Loch)-Fotografie stellt die extrem kleine »Blendenöffnung« dar. Daraus ergibt sich dann die lange Belichtungszeit. Die hier gezeigten Aufnahmen entstanden bei Belichtungszeiten von etwa 20 Sekunden (in strahlendem Sonnenlicht) bis 10 Minuten bei einer Filmempfindlichkeit von 100 ASA. Ich verwende kein Stativ die Box wird irgendwo eingezwickt, hingestellt, angebunden.
Über dem Studiofenster ein riesiger krähenschwarzer Vogelschwarm: Immer mehr, immer höher: Ich starre nach oben, flimmert das Aug mir, versink ich im Meer. Die Vögel schrauben sich elegant höher: in den Herbstnebel. Ich sitz im Korbsessel und weiß nicht mehr weiter. Ende der Sommerzeit, steht im Kalender. Wozu verreisen? frage ich mich der Weinkeller gefüllt, die Zentralheizung behaglich wärmend vor den Fenstern der bunte Herbst, fünf Minuten vom Wald entfernt: Warum soll ich verreisen? Es ist 1/2 4: Wenn ich nicht bald fahre, ist auch noch das Tageslicht weg.
Konzept ist Konzept, Vernunft ist Erfindung und das Automobil hat Scheinwerfer. So fuhr ich am Abend los, ausgerüstet für alle Eventualitäten; fuhr nach Süden bis Vitis. Süden? Osten? Westen? Ich rief bei Ilse und Dieter an, wurde eingeladen und bin nun in Gmünd, gelabt, gesättigt und mit einem (weiteren) Stamperl Schnaps in einem großzügigen Studio untergebracht. Nach der Reise durch die Waldviertler Abendnebel der reinste Luxus. Für Pinhole-Aufnahmen war es schon zu finster, aber die fünfte Etappe (morgen nach Tschechien?) werde ich wohl bei Tageslicht schaffen. Heute nur ein digitales Foto. Natürlich tauchte schon wieder die Idee auf, ein kleines Büchlein mit den Texten, Zeichnungen und Fotos dieser Reise zu machen. Irgendwie bin ich doch ein Buchhalter. Nun klinget mir gar das rechte Ohr. Dieter empfahl mir ein Fischrestaurant in Trebon.
30. Oktober. Blockheide bei Gmünd. Die Sonne strahlt vom mittagsgrauen Himmel, der Herbstwind ist kalt, ich sitze an einem riesigen Steintisch und die Pinhole-Camera belichtet den Schuldstein. Heute früh doch noch eine Aufnahme in Gmünd: Der Blick aus dem Balkonblumenkisterl. Nun entwickelt sich das Steingebirge an meiner Brust, wärmt sich unter dem Pullover für zwei Minuten.
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Loch statt Chip
Die Pinhole-Fotografie erlebt derzeit eine Renaissance was in Zeiten der digitalen Megapixel kein Wunder ist: Das Knipsen wurde einfach schon langweilig, die Überraschung beim Fotografieren durch das Loch (was ist drauf, wie genau habe ich die Belichtungszeit erwischt?) wirkt erfrischend, der Selbstbau der Kamera stellt eine Herausforderung dar, der man sich gerne stellt.
Seit drei Jahren fotografiere ich mit einem einfachen, selbst gebauten Gerät. Es besteht aus einem Sofortbild-Rückteil und einem daraufgesetzten Karton-Aufbau. Dieser trägt eine Aluminumplatte mit einem Loch in der Mitte. Dieses Loch ist mittels einer Alu-Folie verschlossen, und in dieser Folie befindet sich das Allerheiligste: The Pin-Hole! Sorgsam mit einer Nadel gebohrt, die Ränder geglättet, die Innenseite und die Kanten geschwärzt, um Reflexe zu vermeiden. Durch dieses Löchlein fällt das Licht auf das Sofortbild-Material und belichtet es. Thats it.
Daß ich vorhabe, im Laufe dieser Herbstreise jede Nacht an einem anderen Ort zu verbringen, beschäftigt die Leute: Wohin fährst Du?, fragte Dagmar heute früh. Nach Tschechien, sagte ich und goß den Tee noch einmal auf. Die Pinhole Box und die Digitalkamera vertragen sich einwandfrei.
Treboner Kümmelkarpfen
Am Abend im Restaurace Supinka in Trebon. Sie werden es nicht glauben, ich bin hier verabredet; sitze in einem Fischrestaurant am Ufer dieses riesigen Fischteiches namens Svet/Welt. Die Musik ist furchtbar, die Einrichtung desgleichen: absolut geschmacklos, könnte man sagen. Aber alles andere ist famos: Zu Mittag fuhr ich über die Grenze nach Ceske Velenice. Man kann inzwischen in jedem zweiten Haus Zigaretten, Schnaps und Bier kaufen und Kleidungsstücke der sportlichen Art aus Taiwan. Schon dachte ich, Dieter hätte übertrieben bei seiner Beschreibung der Prostitution, da sah ich die Mädchen: Nur der Oberkörper ist der Jahreszeit entsprechend bekleidet; die Beine nackt, die Nase rot, die Gesichter traurig, gehen sie die Gehsteige am Stadtrand entlang. Ich verfiel in Demut und kaufte nur zwei Äpfel, eine Semmel und ein Tatzerl Streichkäse als Mittagessen (plus ein Joghurt). Beim Weiterfahren dachte ich daran, eine dieser jungen Damen zum Essen einzuladen, getraute mich aber nicht, stehenzubleiben.
Stattdessen fuhr ich nach Norden, überquerte die Lainsitz/Luznice (und die Hauptstraße Wien-Prag) in Halamky, durchs Grenzland Richtung Chlum. Verfallene Gehöfte, riesige Viehweiden, Teiche, Wald. Kurz vor Frantiskov, bei einer aufgelassenen Sandgrube, die allmählich wieder von jungen Föhren zurückerobert wird, fand ich einige verrostete Ofenrohre und baute daraus ein Stativ für die Pinhole-Camera. Belichtungszeit: Ein Gebäck und ein halbes Tazerl Streichkäse mit Dille. Dieter ist gekommen und verspeist genüsslich einen Kümmelkarpfen. Er sagt, Dille muß er nicht haben.
Als nächstes fuhr ich nach Chlum, zwischendurch noch einige Aufnahmen bei Fischteichen. Kurz vor Stankov kehrte ich um, fuhr zur Hauptstraße zurück und nach Trebon. Hier spielte ich Tourist: Ging in die Informationsstlle, suchte mir ein Hotel aus das Bily Konicek, was Weißes Rössl heißt, nahm ein Zimmer, holte mein Auto und parkte im Hof; brachte mein Gepäck aufs Zimmer und spazierte ins Fischrestaurant, um Dieter zu treffen. Die Stadt ist bezaubernd schön, die Menschen sind freundlich keine Ressentiments wegen der Grenzblockaden und der Proteste gegen die Inbetriebnahme des Atomkraftwerkes Temelin. Ich ertappte mich zweimal dabei, Englisch zu sprechen erst nach Erkundung der Stimmung sprach ich dann deutsch: jetzt; wo ich das notiere, kommt es mir lächerlich vor der Kellner schenkte mir gleich eine Ansichtskarte vom Hotel etc etc.
Das wird kein objektiver Reisebericht. Ich bin kein professioneller Reisender. Was hat mich nur hierher verschlagen? Rundherum dichtes Stimmengewirr lauter Einheimische: Nachts hört man keine deutschen Dialoge. Die Österreicher kommen nur essen und einkaufen. Das köstliche Regent Bier wird gleich ein paar Häuser weiter gebraut über 300.000 Hektoliter jährlich (das entspricht 60 Millionen Flaschen aber das Bier und Böhmen wäre eine eigene Geschichte!)
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Der Goldene Kanal
Das Lokal wird beinahe ausschließlich von Männern besucht. Ich sehe rundherum nur eine einzige Frau, nein: zwei. Die Fischteiche sind nach einem gut durchdachten System angelegt. Sie sind miteinander durch einen »goldenen Kanal« verbunden, der bei Majdalena aus der Lainsitz gespeist wird und auf einer Länge von 45 km eine Reihe von Teichen mit Wasser versorgt, ehe er südlich von Veselí wieder in die Lainsitz mündet. Beim Abfischen wird zuerst der am tiefsten liegende Teich abgelassen. Nach dem Abfischen fließt das Wasser vom zweiten in den ersten und so weiter. Insgesamt geht nur die Wassermenge eines einzigen Teiches verloren und bald sind wieder alle Teiche voll.
Die Reise ins Blaue verlangt Offenheit erst bei einer Straßenkreuzung entscheide ich, ob ich links, rechts oder geradeaus weiterfahre. Hier gibt es noch Anstreicher, die perfekte Holzimitationen Auf Klotüren malen. Nach dem Lackieren wird sogar signiert. War draußen, die Postkarten an Purgi und Felix ins Postkastl zu werfen. Die Nacht ist mild wie in Italien. Plötzlich wird mir bewußt, daß keine Termine, Aufträge, Telefonate mich vom direkten Erleben ablenken. Und ich fühle, wie eingebettet ins Geschehen ich normalerweise bin. Hier habe ich nichts anderes zu tun, als mir noch ein Bier zu bestellen, wenn eines ausgetrunken ist wie alle anderen rundherum. Hier steht ja schon das nächste Pivo ein wunderbares Volksnahrungsmittel. Ich glaube, ich bin ein Tscheche, ein Dauerbranddurchlauferhitzer-Löscher. Aber einsam. Ein dumpfes Brausen, vom Ventilator, von dem Gewirr von den Tischen rundherum, von den gerauchten tschechischen Zigaretten. Die Eindrücke brechen sich Bahn, die Sackgasse öffnet sich, je klarer der Besoffene, desto schwieriger die Führung des Schreibinstrumentes. Kein Mensch hier macht sich Gedanken über die Vergänglichkeit: Einlullend die amerikanischen Schnulzen aus dem Radio, die Wärme der Zentralheizung, das Lachen vom Nebentisch, die gleichmäßige Bewegung der Hand, die den Stift führt. Also gut, ich lasse das Denken und begnüge mich mit dem Sein.
Der Kapitalismus scheint hier widerspruchslos anerkannt zu werden. Neben sehr einfachen Haushalten (Blicke durch Fenster ohne Vorhang in der Dämmerung) stehen Fremdenverkehrsbetriebe, in denen man sich sehen läßt, das Leben genießt. Kaum Leute auf der Straße, Sorge und Leid sind aus dem Straßenbild verbannt. An den Wänden des Vorraumes klebt ein Teppichboden: Ein exotisches Land, nur wenige Kilometer jenseits der Grenze.
Im Zimmer No.1. Habe mir noch ein Krügel Bier mitgenommen, den Fernseher auf die Seite geschoben und mein Malwerkzeug ausgepackt. Ziemlich unbequem mit dem Fauteuil und dem kleinen Tischchen aber immerhin: Die Reisewerkstatt ist eröffnet. Eine andere Art von Sofortbildern. Dieses Foto entstand allerdings digital zu wenig Licht for the pinhole!
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Die ideale Lochgröße
Die immer wieder gestellte Frage beim Bau einer Lochkamera lautet: Wie groß ist das perfekte Loch? Die Antwort ist ganz einfach: D = 0,037 x SQR(F). Dabei steht D für den Lochdurchmesser, F für die »Brennweite« in mm (= Abstand zwischen Loch und Film), SQR (square root) = Quadratwurzel. Die Erklärung des Faktors 0,037 ergibt sich einerseits aus der Optimierung der beiden »Unschärfe-Faktoren« Beugungsunschärfe und geometrische Unschärfe sowie der Berücksichtigung der vorherrschenden Wellenlänge des Sonnenlichtes (etwa 550nm). Mathematisch interessierte LeserInnen verweise ich auf eine der vielen Internet-Sites zum Thema »Pinhole«, wer nur fotografieren will, probiere F = 50mm/D = 0,26mm, zum Beispiel, oder: F = 100mm/D = 0,37mm.
Die Uhr schlägt dreimal. Dreiviertel was? Ich habe keine Uhr mit mir (auch die Belichtungszeiten schätze ich über den Daumen, je nach dem Zug der Wolken) ich bin nur hier und hör der Glocken Schläge. Draußen fährt ein Auto vorbei. Zimmer Nummer 1: Was geht hier vor? Der Maler malt was soll schon sein. Er raucht. Er trinkt. Ertrinkt er gar? Und wann? Und wo? Und kommt auch dies nicht anders, als er meint? Dunkles Wesen Wahrheit was hältst Du Dich bedeckt?
Und wo so wird die aufmerksame Leserin sich fragen wo bleibt die Liebe. Ich bleib’ die Antwort schuldig, schließ das Fenster, schließ das Herz und bleib mir alle Antwort schuldig. Nein, das Aquarell-Wasser trink’ ich nicht. Bin ja noch viel zu jung zum Sterben. Das Zimmer ist schon bezahlt.
31. Oktober. Während die Pinhole, auf dem Koffer stehend, aus dem Fenster fotografiert, bereite ich mir den ersten Sencha Matcha Iri auf ziemlich exotische Art: Mit heißem Wasser aus der Leitung ins Bierkrügel. Das Licht ist ideal zum fotografieren, die erste Aufnahme a little bit overexposed. Nun lege ich einen s/w-Film ein und mache die Aufnahme noch einmal. Dieter meint, die Bilder waren schon einmal schärfer ist gar das Löchlein staubig (hoffentlich nicht gar beschädigt es befindet sich ja in einer zarten Alu-Folie, einer sensiblen). Ach, die Lupe vergessen! Und den Wasserkocher. Da verschwindet die Sonne. Die Turmuhr schlägt.
Unglaublich, in wie kurzer Zeit ich im Stande bin, ein Hotelzimmer zu chaotisieren. Der Inhalt eines Koffers und zweier Rucksäcke ist über Betten, Tischchen, Boden, Bad und Sitzgelegenheiten verteilt. Ich wohne auf der Stelle und alles ist mir Werkstatt. Die erste s/w-Aufnahme ist zwar auch ein bißchen hell geworden (bin aus der Übung beim Schätzen der Belichtungszeit?), aber on the way from Pinhole to Pixel gibt es ja noch jede Menge Tricks.
Svickova und Rebel
Haben Sie jemals von Havlickuv Brod gehört? Heute wohne ich in der Pension Starr, Zizkova 3070. Im Moment bin ich allerdings in einem Keller unter einem der Häuser im Zentrum der Stadt, bei Svickova und Rebel. Rebel heißt das Bier in dieser Gegend. Die Kellnerin lächelt jedesmal verständnisvoll, wenn ich mein dürftiges Tschechisch ausprobiere. Hier im Norden spricht man nicht mehr deutsch (Nein: der Herr in der Informationsstelle vorhin erklärte mir, seine dritte Heimat sei das Schweizerhaus in Wien!) Der heutige Tag schien sich schon zum Tiefpunkt dieser Herbstreise zu entwickeln, bis ich dann das Zimmer in der Pension betrat: Es ist groß, abgewohnt, mit einem Schminktisch (für Selbstportraits) und im sozialistisch-modernen Stil eingerichtet.
Auch den Fehler der Pinhole-Camera habe ich entdeckt: Nicht das Loch ist schuld daran, daß die Aufnahmen bisher überbelichtet waren nein, es fällt Licht ein, an einer Stelle, wo es nicht soll. Wahrscheinlich seit im Sommer jemand draufgestiegen ist, als ich sie in der Baumühle achtlos beiseite gelegt hatte. In Tabor deckte ich die Verbindung zwischen dem Karton-Körper und dem Sofortbild-Rückteil provisorisch mit den schwarzen Autofahrer-Handschuhen ab und siehe da: Das Bild wurde unterbelichtet, hatte aber wieder die gewohnt schwarzen Schatten. Zum Glück habe ich schwarzes Isolierband mit. Muß sie morgen früh reparieren.
Zu Mittag brach ich von Trebon auf, nachdem ich noch eine kleine Jause eingekauft hatte. Fuhr nach Norden, das Buch-Antiquariat in Tabor zog mich an. Bei einem großen Teich sah ich dann noch das Abfischen, bevor ich Trebonsko verließ. In Tabor fotografierte ich dann das Gebäude, in dem wir vor vielen Jahren mit Mutti übernachtet hatten. Inzwischen ist es kein Hotel mehr, sondern eine Billa-Filiale. Das wurde die erste unterbelichtete (dichte) Aufnahme die zweite sodann die Burg in Kamen, am Weg nach Pelhrimov.
Ich fuhr weiter nach Humpolec, schließlich nach Havlickuv Brod. In einer kleinen Industriestadt sah ich Fabriksarbeiter auf dem Heimweg. Ihre Gesichter waren traurig, ihre Kleidung schmutzig, ihre Haltung gebeugt. Ich stürzte in ein finsteres Loch aus Sentimentalität und Traurigkeit, als mir bewußt wurde, daß ich hier planlos herumfahre und nichts zu tun habe, als Sofortbilder mit einer Lochkamera anzufertigen und mir jeweils ein Quartier für die Nacht zu suchen. Ich stellte den Sinn des Unternehmens in Frage, kam mir nutzlos vor und fuhr niedergeschlagen die Überlandstraße weiter, eingezwickt zwischen großen Lastautos und Leuten, die von der Arbeit nach Hause fuhren.
Der Rindsbraten in Rahmsauce ist verspeist, das Bier beinahe ausgetrunken; ich werde also zur Non Stop-Pension zurückkehren. Vorhin mit Purgi telefoniert sie fühlt sich auch einsam in Wien. Ja, der Ofen ist heute geliefert worden. Warum fühle ich mich so verloren? Bin auf mich zurückgeworfen und merke, daß ich allein bin mit meinen Landkarten, den Fotoapparaten und dem ganzen restlichen Klimbim. Wenn ich den Kopf gedankenschwer auf die Hand stütze, rieche ich den Duft meines Eau de toilettes: Es heißt Relax, sehr witzig.
Pension Starr. In meiner Abwesenheit war Schichtwechsel in der Rezeption. Die junge Dame verbirgt nichts von ihren Reizen. Ist das der Kapitalismus? Oder jugendliches Selbstbewußtsein/Übermut? Schon vorher im Restaurant war ich verwirrt von dem tiefen Schlitz in der Bluse der lächelnden Kellnerin und sagen sie nicht, das sei nicht Absicht, oder gar, ich reime mir etwas zusammen. Also das Rebel hier heißt Bier.
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Schwere Luft
Am Heimweg drei Fotos nicht gemacht: die barocke Brunnenfigur, eine Schale tragend; das Eichenlaubdiagramm auf der Straße: Beim Näherkommen erkannte ich es als Zeichen »Achtung, Schulkinder« und das Leuchtschild der Pension in Rot und Blau an der Stirnseite des Betonklotzes.
Havlickuv Brod (früher »Deutsch-Brod« wegen des Zuzuges deutscher Silberbergbau-Leute) ist seit dem 13. Jahrhundert eine rebellische Stadt zwischen Prag und Brünn (ich dachte, ich sei viel weiter nördlich gelandet bei Polen, Moskau, Finnland). Der deutsche Text auf der Rückseite des Stadtplanes sehr unterhaltsam: Brod erlebte wechselnd wie ein Wachsen des Reichtums als eine schwere Not des mit den Kriegen plünderten Landes?
Nach einer kleinen Entspannungspause und einer nächtlichen Jause, beim sitzen und trinken, beschließe ich, mich morgen wieder gen Süden zu wenden, der Heimat zu. Bier trinken kann ich zu Hause auch. Aber es soll keine endgültige Entscheidung sein. Will mich zumindest offen darauf einlassen, was auf mich zukommt. Das ist doch das mindeste, was man in einer rebellischen Stadt zu notieren hat. Ganz abgesehen von den Dekollettees und der schweren Luft im verrauchten Hotelzimmer. Ob morgen früh wohl irgendwie die Bereitung des grünen Tees möglich sein wird? Doch nicht in einer leeren Bierflasche?! Eigenartig, welche Aufgaben sich stellen, sobald man aus gewohntem Gefüge gerissen ist. Immerhin stört nichts die Ruhe. Von den vorbeirasenden Lastautos abgesehen. Dürfen die hier die ganze Nacht fahren?
Die 30. Seite seit Reisebeginn und kein Foto des Brunnens mit Triton! Diesem Tausendsassa! Ich bräuchte einen Reise-Partner wie Johannes Wolfgang Paul gebildet, aufmerksam, wortstark und wahrhaftig: Dann könnte ich mich ganz aufs Bier trinken konzentrieren. Aber vielleicht wird ja etwas aus der Reise in den Karst mit Beppo Beyerl.
Beim Abfischen der Karpfenteiche werden die Fische in die Enge getrieben und in einem großen Netz, zwischen zwei Booten, dem Ufer und einem Steg gefangen gehalten. Aus diesem Viereck fischt man sie zu hunderten mit einem großen Käscher. Per Kran wird der Käscher gehoben und die Karpfen gelangen über eine Rutsche in die Tankwägen, welche in einer langen Reihe bereitstehen. Daneben gibt es auch Verkaufsstände, von denen sich die Leute ihren Karpfen holen. Ich aß heute, wie gesagt, Rindsbraten. Aber was ess’ ich, nachdem ich ein Schlachthaus besucht haben werde? Lieber Pepi, erinnerst Du Dich noch daran, als wir das Wohnzimmer in der Papiermühle betraten und eine halbe Sau lag auf einem Leintuch am Fußboden? Rebel Tradicni steht auf dem Bier-Etikett. Wogegen hat man hier eigentlich rebelliert? Gegen die Schließung der Brauerei? Ob dieser Text den Ansprüchen einer Kulturzeitschrift wohl genügen wird? Für ein Erotik-Magazin ist er jedenfalls zu lahm! Es kommt eben alles, wie es kommt. Nein, das war keine Anspielung! Vom Glück verheißenden Sozialismus habe ich jedenfalls nichts mehr gesehen. Ich rufe die Zeitansage in Österreich an: 21 Uhr 32 Minuten. So früh bin ich schon lange nicht schlafen gegangen.
1. November. Perfect grey day. Grüner lauwarmer Tee vor dem Duschen. Die Nacht war schrecklich mit dem Sommer-Alibi-Deckerl von den Schultern bis zu den Knien. Aber zwei nächtliche Telefonate halfen gegen die Einsamkeit und jetzt muß das Jammern ein Ende haben: Was einem erst alles in den Sinn kommt, sobald man es entbehren muß: am Schlimmsten ist es mit der Liebe, so einmal entbrannt nicht mehr aufhört zu glosen, zu zehren im einsamen Herzen. Schnell zur Dusche hin: löschen! Außerdem brauche ich auf dieser Reise ein neues Selbstverständnis: Wer behauptet, das Leben selbst sei die höchste aller Künste, der muß es dann auch dementsprechend leben. Dies wurde mir klar beim Anblick des seltsamen Stillebens am Toiletteschrank: Klopapier, Teeglas, Brille. Da braucht man nichts dazuerfinden.
Breakfast at the Billard Club. Laut, verraucht; und wieder eine wunderschöne junge Frau, freundlich, diesmal hochgeschlossen: Dafür bringt sie mir zwei Mandarinen auf einer weißen Serviette ? Laß’ dir’s schmecken, alter Affe! Zurück auf Zimmer 304 sehe ich, daß noch zwei Aufnahmen »auf dem Film« sind: Die erste, ein Blick aus dem Fenster gelingt. Endlich wieder eine richtig belichtete Aufnahme. Dann stelle ich die Box auf den Kasten und lasse sie ins Zimmer schauen. Sie sieht lustig aus mit ihren Ohrwascheln, was die wegstehenden Finger der Handschuhe sind. Belichtungszeit: Genau bis jetzt!
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Am Abend in der Veranda
Zurück in Karlstein. Nach dem Frühstück reparierte ich die Pinhole, indem ich Box und Rückenteil abdichtete. Dann schlug ich ein Büchlein irgendwo auf und las nach meinen nächtlichen Zweifeln: »Die Art, in der wir versuchen, der äußeren Welt unsere private Deutung aufzuerlegen, macht das Drama unseres Lebens aus« (Andrè Gide). Und den Kommentar von Luwig Markuse: »Die Art, in der wir versuchen, uns selbst unsere private Deutung aufzuerlegen, macht das zweite, intimere Drama unseres Lebens aus.« Da klopfte es an der Tür, das Zimmermädchen wollte putzen kommen. Ich packte schnell meine sieben Zwetschken zusammen und begab mich auf die Reise ins Stadtzentrum.
Nachdem ich doch noch Herrn Triton fotografiert hatte (ab jetzt funktionierte die Camera wieder perfekt), hob ich Geld ab und kaufte neue Schuhbänder. Dann fuhr ich nach Süden: Jihlava. Stadtbummel, Fotos vom Turm mit Stadttor und vom Gymnasium (endlich scharfe Aufnahmen, richtig belichtet!) und weiter nach Trest (eine trostlose Stadt) und Telc. In den letzten Strahlen der untergehenden Sonne Aufnahmen der Häuserfassade auf dem Hauptplatz. Einkauf im Supermarkt (Mohnnudeln für Felix), dann über Dacice und Slavonice zurück ins Waldviertel.
Die Post durchgeschaut, Purgi angerufen, dann die Mohnnudeln zubereitet und zusammen mit Felix verspeist. Insgesamt habe ich 588 km zurückgelegt und 29 Pin-Hole-Aufnahmen belichtet, mit wechselndem Erfolg. Bin ich Jäger oder Sammler? Spiele mit dem Gedanken, ein kleines Büchlein zu gestalten: Herbstreise, oder von der Unmöglichkeit, vor sich selber davonzulaufen. Es ist kühl geworden. Nach 13 Stunden Schlaf mache ich die letzte Aufnahme in Farbe: Pin Hole schaut in das Aquarellkästchen. Die Reise geht innen weiter.
Projektion und Emulsion
Die Pinhole-Idee gibt es sicherlich schon seit Jahrtausenden. Irgendwann haben die Menschen entdeckt, daß durch ein kleines Loch im lichtdichten Raum ein Abbild der Außenwelt nach innen projiziert wird. Es muß ihnen wie Zauberei erschienen sein die Gesetze der Optik kamen ja ein bißchen später.
In der Renaissance verwendete man diese Technik, um auf transparentem Material (Pergament oder Papier, in Öl getränkt) die Konturen der solcherart projizierten Gegenstände, Gebäude etc. nachzuzeichnen. Dann dauerte es noch eine Weile, bis die lichtempfindliche Emulsion endlich funktionierte. Die Pinhole-Fotografie war erfunden, als man die beiden Techniken miteinander kombinierte. Soviel zur Technik was aber macht heutzutage den Reiz des Aufwandes aus? In Zeiten der Digitalfotografie erscheint die Pinhole-Fotografie doch reichlich überholt? Entbehrlich? Gewiß, würde man bei oberflächlicher Betrachtung sagen: damit verkennt man jedoch den Reiz des Loches und ohne Erkennen keine Liebe.
Dieter ist gekommen, half mir Apfelkuchen machen und erzählt mir, daß die Grenze zwischen Tschechien und Österreich (wegen Temelin) geschlossen wurde. Bin ich gerade noch rechtzeitig entwischt in den Süden. Muß mal zum Kuchen schauen.
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© 2000 Andreas Ortag
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